Argentinien

Foto: -/AFP
Foto: -/AFP
Sieben Prozent Inflation in Deutschland? Argentinier können darüber nur müde lächeln: So schnell steigen die Preise dort im Monat. Vom verzweifelten Versuch, die Lage in den Griff zu bekommen.
Von Christoph Gurk
24. Mai 2023 - 6 Min. Lesezeit
Erstmal die gute Nachricht: Seit Anfang dieser Woche gibt es in Argentinien neue Banknoten, grau und rosa, vorne bedruckt mit zwei Koryphäen der argentinischen Medizin, hinten mit dem Bild eines renommierten Mikrobiologie-Instituts. 2000 Peso ist der neue Schein wert, doppelt so viel, wie die bisher höchste Banknote. Das Leben der Argentinier soll nun einfacher werden, heißt es aus der Zentralbank: „Die Banknote mit höherem Nennwert wird den Betrieb von Geldautomaten verbessern und dafür sorgen, dass es einfacher ist, Bargeld bei sich zu tragen.“
Der Stolz und die Freude, sollte man meinen, müssten groß sein. Stattdessen aber: Spott, Häme und Kritik. Die Sicherheitsvorkehrungen seien mangelhaft, heißt es, die Farbwahl mies und ohnehin: „Die neuen Scheine sehen ja aus, als wären sie eine billige Kopie der 5 Won Banknoten aus Nordkorea!“, beklagt sich ein Nutzer im Netz.
Zu all den gestalterischen und technischen Problemen kommt aber noch ein weiteres: Der Wert der Scheine. Schon im Februar diesen Jahres, als die Ausgabe der neuen Banknoten bekannt gegeben wurde, entsprachen 2000 argentinische Peso gerade einmal elf US-Dollar. Mittlerweile ist der Wert auf unter neun US-Dollar gesunken – und das ist nur der offizielle Wechselkurs. Auf dem Schwarzmarkt, an dem sich mittlerweile ein großer Teil des argentinischen Alltags orientiert, bekommt man für 2000 Peso gerade mal noch vier US-Dollar.

Foto: Natacha Pisarenko/AP
Foto: Natacha Pisarenko/AP
Beim Metzger, hier in Buenos Aires, gehen die Preise ins Vierstellige.
Der neue und gleichzeitig höchste Schein in Südamerikas zweitgrößter Volkswirtschaft reicht gerade mal noch für ein Mittagessen und Ende diesen Jahres vielleicht auch nur noch für eine Tasse Kaffee. Das allerdings wäre noch eines der positiveren Szenarien. Allein im April lag die Inflation in Argentinien bei 8,4 Prozent. Auf das Jahr hochgerechnet kommt man auf eine Teuerungsrate von über 108 Prozent.
Für viele Produkte hält die Regierung die Preise künstlich niedrig
Längst haben sich viele Preise verselbstständigt: Einzelhandelsketten schlagen zur Inflation auf manche Produkte gleich noch ein paar Peso oben drauf, weil schwer kalkulierbar ist, wie viel es sie selbst kosten wird, Nachschub für ihre Ware zu besorgen. Um Kunden zu locken, gibt es ständig und überall Sonderangebote: Zwei Packungen Klopapier für den Preis von einem, 30 Prozent Rabatt mit dieser oder jener Kreditkarte, an Dienstagen kaufen Rentner günstiger ein und dann gibt es auch noch eine Liste mit 2000 Produkten von Speiseöl bis Kuchenglasur, deren Preise von der Regierung künstlich niedrig gehalten werden. Ein Ende der Inflation ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Bald, fürchten Experten, könnte die monatliche Teuerungsrate sogar zweistellig werden. Das wäre heftig, selbst für argentinische Verhältnisse.

Foto: LUIS ROBAYO/AFP
Foto: LUIS ROBAYO/AFP
In den letzten 100 Jahren hat das Land einen beispiellosen Abstieg erlebt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt es als eines der wohlhabendsten der Welt und auch heute noch verfügt Argentinien über natürliche Schätze: Fruchtbare Felder, sattgrüne Weiden, riesige Gasvorkommen, Lithium, Gold und Silber. Dennoch geht Argentinien immer wieder pleite. 2002, beim größten der letzten Crashs, brach die Wirtschaft komplett zusammen, verzweifelte Sparer schlugen mit Hämmern auf die verrammelten Türen der Banken ein, hunderttausende Menschen verloren ihre Arbeit und Ersparnisse.
Kurz: Die Argentinier sind Krisen gewöhnt, ebenso wie auch die ständig hohe Inflation. Mietverträge werden heute meist so abgeschlossen, dass sich der Betrag alle sechs Monate um 30, 40 oder 50 Prozent erhöht. Wer kann, kauft auf Raten, in der Hoffnung, dass sich die Abschläge nach zwölf oder sogar 24 Monaten in Minimalbeträge verwandelt haben. Und weil Sparen kaum Sinn macht, brummt der Konsum: Einkaufszentren sind voll und Restaurants haben Wartelisten. Gleichzeitig gibt es fast nirgendwo mehr gedruckte Speisekarten: Viel zu aufwendig, wenn man alle paar Tage die Preise anpassen muss.
Abseits der Hipster- und Bankenviertel ist die Not aber auch riesig. Fast 40 Prozent der Argentinier leben heute unter der Armutsgrenze, bei den unter 14-Jährigen ist es sogar mehr als die Hälfte.
Dabei geht es Argentinien auf den ersten Blick gut: 2021 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um mehr als zehn Prozent, 2022 dann nochmal um 5,2 Prozent. Und die Arbeitslosigkeit ist mit sechs Prozent so niedrig, wie sei Jahrzehnten nicht mehr. Doch während Millionen Argentinier heute jeden Tag zur Arbeit fahren und auf Baustellen schuften, als Hausangestellte, Pfleger, Kellner oder Köche, reicht ihr Geld oft nicht mehr, um auch am Ende des Monats noch den Kühlschrank oder den Tank zu füllen. Es gibt zwar ständig Lohnerhöhungen, diese halten mit der Inflation aber nicht Schritt und mit immer mehr Geld können sich die Argentinier immer weniger kaufen.
Die linksperonistische Regierung versucht verzweifelt, die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Kontrolleure werden in Super- und Großmärkte geschickt, um nachzuprüfen, ob Händler die Preise zu sehr angehoben haben. Spekulanten seien Schuld an der hohen Inflation, klagt man im Präsidentenpalast und dem Wirtschaftsministerium, dazu habe man von der wirtschaftsliberalen Vorgängerregierung einen gigantischen Schuldenberg geerbt und nun hätte noch eine der schlimmsten Dürren der letzten Jahrzehnte die Ernten vernichtet und damit auch die Deviseneinnahmen vermindert.
In keinem anderen Land außerhalb der USA gibt es so viele Dollar-Noten
All das ist richtig, aber auch nur die halbe Wahrheit. Denn dass Argentinien immer wieder unter hoher Inflation leidet, liegt grundsätzlich vor allem einmal daran, dass das Land seit Jahrzehnten mehr ausgibt, als es einnimmt. Die Lücke wird dann entweder damit geschlossen, dass man im Ausland Schulden aufnimmt oder aber die Notenpresse anwirft. Nach Hyperinflationen und Abwertungen traut auch kaum jemand noch der Landeswährung, geschweige denn den Banken. Wer kann, tauscht seine Ersparnisse in Dollar, am liebsten in Cash. In keinem anderen Land außerhalb der USA gibt es so viele Dollar-Banknoten, wie in Argentinien.
Während die Bürger aber immer mehr Scheine horten, fehlen der Regierung die Dollar, um die Schulden zurückzuzahlen. Es gibt darum schon seit Jahren strenge Devisenbeschränkungen, 200 Dollar pro Kopf und Monat, vielen Argentiniern aber reicht das nicht, auch, weil Teile der Wirtschaft heute komplett in US-Währung funktionieren, nicht in Peso. Wer sich in Buenos Aires ein Häuschen oder eine Wohnung kaufen will, bezahlt in Dollar und in bar, dicke Scheinbündel, die meist in extra eingerichteten Hinterzimmern in Banken gezählt werden. Um trotz der Devisenbeschränkungen an so viel Cash zu kommen, blüht ein Schwarzmarkt, der sogenannte dolar blue. Wer in eine Bank geht in Argentinien, bekommt für einen Dollar derzeit rund 235 Peso. Wer aber eine der illegalen Wechselstuben im Zentrum von Buenos Aires aufsucht, erhält mehr als das Doppelte. All das treibt die Inflation weiter an.
Viele Argentinier haben die Schnauze voll von so viel Chaos und Krisen. Auch darum liegt bei den Umfragen für die Wahlen im Oktober ein Kandidat vorne: Javier Milei, ein radikaler Wirtschaftsliberaler, der davon träumt, die Zentralbank zu sprengen und verspricht, den Peso komplett durch den Dollar zu ersetzen.

Foto: Natacha Pisarenko/AP
Foto: Natacha Pisarenko/AP
Ein Plakat des argentinischen Präsidentschaftskandidaten Javier Milei, der seine Buch 'Das Ende der Inflation' auf der Buchmesse in Buenos Aires präsentierte.
Die meisten seriösen Wirtschaftswissenschaftler halten das für fraglich, wenn nicht gar für kompletten Humbug. Bei vielen Wählern kommen diese radikalen Vorschläge aber gut an. Nicht unwahrscheinlich, dass es Milei zumindest in die Stichwahl schafft. Zur Beruhigung der Lage in Argentinien würde das wohl kaum beitragen, im Gegenteil.
Und noch während der 2000 Peso Schein langsam in Umlauf kommt, heißt es aus der Zentralbank, dass man über eine weitere neue Banknote zumindest nachdenke: 5000 Peso soll sie wert sein. Viel zu wenig, glauben viele Argentinier. Was es bräuchte, wäre ein 10 000 Peso Schein und auch für das Design gäbe es schon Vorschläge. Wie wäre es denn statt irgendwelchen Koryphäen aus der Medizin mit Fußballern? Hinten könnte die Banknote zum Beispiel die argentinische Nationalelf beim Gewinn des dritten WM-Titels im letzten Jahr zeigen, vorne Lionel Messi mit dem Pokal in der Hand. Denn die Preise mögen noch so schnell steigen und der argentinische Peso jeden Tag an Wert einbüßen, eine Sache aber bleibt in Argentinien immer gleich: Die Liebe zum Fußball.
Team
Text Christoph Gurk
Bildredaktion Christine Kokot
Infografik Andreas Monka
Digitales Storytelling Ayça Balcı, Christian Helten
Diese Geschichte teilen